Knecht Ruprecht
Von drauß’, vom Walde komm ich her;
ich muss euch sagen, es weihnachtet sehr!
Allüberall auf den Tannenspitzen
sah ich goldene Lichtlein sitzen.
Und droben aus dem Himmelstor
sah mit großen Augen das Christkind hervor.
Und wie ich so strolcht’ durch den finstern Tann,
da rief’s mich mit heller Stimme an:
„Knecht Ruprecht“, rief es, „alter Gesell,
hebe die Beine und spute dich schnell!
Die Kerzen fangen zu brennen an,
das Himmelsthor ist aufgetan,
Alt’ und Junge sollen nun
von der Jagd des Lebens einmal ruhn
und morgen flieg’ ich hinab zur Erden,
denn es soll wieder Weihnachten werden!“
Ich sprach: „O lieber Herre Christ,
meine Reise fast zu Ende ist.
Ich soll nur noch in diese Stadt,
wo’s eitel gute Kinder hat.“
„Hast denn das Säcklein auch bei dir?“
Ich sprach: „Das Säcklein, das ist hier,
denn Äpfel, Nuss und Mandelkern
essen fromme Kinder gern.“
„Hast denn die Rute auch bei dir?“
Ich sprach: „Die Rute, die ist hier,
doch für die Kinder nur, die schlechten,
die trifft sie auf den Teil den rechten.“
Christkindlein sprach: „So ist es recht;
so geh mit Gott, mein treuer Knecht!“
Von drauß’, vom Walde komm ich her,
ich muss euch sagen, es weihnachtet sehr!
Nun sprecht, wie ich’s hierinnen find’!
Sind’s gute Kind’? Sind’s böse Kind’?
Das Gedicht stammt von Theodor Storm (* 14. September 1817 in Husum, † 4. Juli 1888 in Hanerau-Hademarschen)
Theodor Storm gehört mit seiner Lyrik und Prosa zu den bedeutendsten Vertretern des bürgerlichen Realismus. Storm ist vor allem für seine Novellen bekannt, empfand sich allerdings selbst in erster Linie als Lyriker und sah die Gedichte als Ursprung seiner Erzählungen.
Bild: © Josef Pfleger